Sich mit unseren Narben zuwenden

Jeder Mensch erleidet in seinem Leben Wunden. Wir alle sind verwundete Menschen – körperlich und seelisch, geistig und emotional. Vielleicht keine tröstliche Einsicht, dafür aber nüchterne Menschenerkenntnis, die einem mindestens zu sagen vermag: Sei behutsam im Urteil, denn von unseren Nächsten wissen wir vieles nicht. Vom französischen Philosophen Voltaire (1694-1778) ist der Spruch überliefert: „Die Zeit heilt alle Wunden.“ Tut sie das? Die Erfahrung lehrt: Narben bleiben zurück und können sich auch Jahre nach einer Verletzung durch Schmerzen bemerkbar machen. Die Zeit heilt alle Wunden – das entspricht dann nicht der Erfahrung, wenn damit gemeint ist: Die zugefügten Wunden sollen vergessen werden, ich tue so, als wären es nur oberflächliche Kratzer, ich lebe so, als wäre nichts geschehen. Schmerzende Narben kann ich nicht ignorieren. Wenn ich sie schon nicht ignorieren kann, soll ich sie dann vor den Augen meiner Umwelt verbergen? Die Zeit heilt alle Wunden. Aus christlicher Sicht entdecke ich die Wahrheit dieses Satzes, wenn ich mit der Zeit verstehe, wodurch ich verletzt wurde oder verletzt habe. Das braucht eine gestaltete Zeit der Heilung im Vertrauen auf die Möglichkeit des Loslassens vom Vergangenen, des Vergebens und der Versöhnung. Das ist ein erster Gedanke. Einen zweiten Gedanken gewinne ich, wenn ich auf das Leben und Handeln Jesu schaue: Er, den der Kolosserbrief „das Ebenbild des unsichtbaren Gottes“ (Kol 1,15) nennt, ist das Sinnbild des verwundeten Heilers. Oftmals missverstanden, verleumdet und angegriffen, hörte er dennoch nicht auf zu heilen. In ihm offenbart sich Gottes verwundete Heilmacht: Sein Leiden und Tod brachten das Leben und gaben Hoffnung. Bereits die ersten Christen deuteten das Wort des Propheten Jesaja „Durch seine Wunden sind wir geheilt“ (Jes 53,5) auf ihn hin. Kann ich meine Narben in den Dienst an meiner Umwelt stellen? Es gibt das Trotzdem der Liebe. Wenn ich erfahren durfte, dass ich mit meinen Narben angenommen und geliebt bin, schäme ich mich ihrer nicht. Wie menschliche Gegenwart zu verletzen vermag, so auch zu heilen. Die Erfahrung des Angenommen- und Geliebtseins weitet den Blick: Meine Narben machen mich sensibel für die Verletzung anderer. Sie können zu Gaben der Heilung werden. Aber wie? Wiederum blicke ich auf das Beispiel Jesu. Er wandte sich leidenden Menschen zu, ohne über seine eigenen Narben zu sprechen, ohne sein Leiden in den Mittelpunkt der Achtsamkeit zu stellen. Wir dürfen das Vertrauen eingehen, dass unsere geheilten Wunden es ermöglichen, sich dem Nächsten mit unserer Person zuzuwenden. Darin besteht die heilende Gegenwart.

 

Gregor Schwabegger OCist