Müllk(r)ippe
Die erste Krippenausstellung, die ich gesehen habe, war in meiner damaligen Pfarrei St. Hildegard im Münchner Westen. Es muss im Advent 2002 oder 2003 gewesen sein. Zwischen all den schönen barockisierenden, biedermeierlichen, orientalischen und alpenländischen Krippen hat mich besonders eine fasziniert und gleichzeitig erschüttert. Es war die Krippe von Pfarrer Erwin Obermeier. Eine Müllkrippe. Aus allem, was wir nicht mehr brauchen, weil wir es verbraucht haben, aus dem, was wir weggeworfen haben, weil wir keinen Nutzen mehr daraus ziehen können, hatte er eine Krippe gebastelt. Aus der Müll-KIPPE ist so eine Müll-KRIPPE geworden. Leider habe ich kein Foto davon gemacht, aber ich erinnere mich unter anderem noch genau an die vielen kleinen und großen Engel. Sie bestanden aus alten Tuben aus Metall, die aufgeschnitten worden waren. Die Innenseiten – golden bzw. silbern – wurden zum Engelskörper mit den Flügeln zurechtgeformt, der Verschluss der Tube bildete den Kopf der himmlischen Boten. Beeindruckend und verstörend zugleich.
Unweigerlich gemahnt mich das Bild der Müllkrippe an die Worte, die Paulus im ersten Brief an die Korinther schreibt: „… und das Schwache der Welt hat Gott auserwählt, damit er das Starke zuschanden mache. Und das Unedle der Welt und das Verachtete hat Gott auserwählt, das, was nicht ist, damit er das, was ist, zunichte mache …“ Wie oft werden diese Worte zitiert, wie oft hören wir sie in der Liturgie, im Stundengebet, und leiern sie herab, ohne dass sie unser Denken und Fühlen erreichen? Vom Handeln möchte ich noch gar nicht sprechen! Wir lullen uns ein mit der Behaglichkeit einer idealisierten Familienidylle, eines vorromantisch-biedermeierlichen Topos, den wir in einer Zeit des Sinnverlustes und der politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Desorientierung als Rettungsanker mehr denn je benötigen. Die oberflächliche Schönheit soll uns über die von uns selbst geschaffene Hässlichkeit hinüberretten. Sie soll die grässliche Fratze, die uns tagtäglich im Spiegel der Menschheit anstarrt, ihre lüsternen Augen, ihr schiefes Grinsen, ihren Gestank, der uns den Atem nimmt und ihre spindeldürren Finger, die uns an die Kehle wollen, vertreiben und vergessen machen.
Es sind die kleinen, schnell vorbeieilenden Augenblicke, in denen wir aus dem Anblick der Begierde und Lust v.a. der Kinder beim Auspacken der Geschenke Befriedigung ziehen, weil wir ihnen Wünsche erfüllen, die sie in der Tiefe ihres Herzens gar nicht haben, weil wir sie mit Dingen zuschütten, die sie für ein glückliches Leben gar nicht brauchen. Es sind diese kurzen Momente, in denen wir das flüchtige Bild einer längst vergangenen Zeit zu evozieren und zu erhaschen versuchen. In unseren Kindern versetzen wir uns in unsere eigene Kindheit zurück. Wir werden selber nochmal klein, wir können das bekommen, was uns damals verwehrt blieb, wir füllen unsere innere Leere mit dem Leben der anderen, unsere Angst kleiden wir in das Lachen der anderen, unser Sehnen nach Sinn ertränken wir im weiten Meer der unterm leuchtenden Christbaum liegenden Flut an zerrissenen Geschenkpapieren.
Dieser Geschenkewahnsinn an Weihnachten ist für mich ein Symbol für unser übersättigtes und bequemes Luxusleben im Generellen. Und es stellt sich die Frage: Wer bezahlt für all das und vieles mehr? Sind es nicht die Menschen, denen aufgrund unseres Wohlstands und Reichtums der Zugang zu den einfachsten und lebensnotwendigsten Dingen geraubt wird? Sind es nicht die Menschen, denen wir unseren Müll aufbürden? Sind es nicht all die unschuldigen Lebewesen zu Land, zu Wasser und in der Luft, die in der Müllwüste und Plastikflut unserer Wegwerfgesellschaft körperlich verunstaltet werden, ersticken, verhungern und mit stillen, ungehörten Schreien jämmerlich krepieren? Für sie alle gelten die Worte, die Jochen Klepper in seinem Weihnachts-Kyrie an das Christkind richtet:
Du Kind, zu dieser heiligen Zeit
gedenken wir auch an dein Leid,
das wir zu dieser späten Nacht
durch unsere Schuld auf dich gebracht.
Kyrie eleison!
Die Welt ist heut voll Freudenhall.
Du aber liegst im armen Stall.
Dein Urteilsspruch ist längst gefällt,
das Kreuz ist dir schon aufgestellt.
Kyrie eleison!
Die Welt liegt heut im Freudenlicht.
Dein aber harret das Gericht.
Dein Elend wendet keiner ab.
Vor deiner Krippe gähnt das Grab.
Kyrie eleison!
Letzten Endes gelten die Worte Kleppers uns selbst. Wir schaufeln uns langfristig das eigene Grab. Ohne das Warum und Wieso beantworten zu können möchte ich einfach ein paar Fragen in den Raum werfen:
– Warum schaffen wir uns widersinnige und gegen den gesunden Menschenverstand gerichtete Gesetze, die unser Handeln so beschränken, dass wir uns von Industrie und Wirtschaft immer abhängiger machen?
– Warum tun wir nichts dagegen, sondern sind bereit alles für unsere Bequemlichkeit zu opfern?
– Warum schaffen wir uns ein Wirtschaftssystem, das uns in einer Tretmühle arbeiten lässt, die uns physisch und mental ruiniert und die uns uns selbst entfremdet? Und dann brauchen wir Räume und Beschäftigungen, in/bei denen wir das tun und leben können, was das Leben eigentlich lebenswert macht. Wieso kann man nicht beides von vorneherein verbinden? Die menschlichen, geistigen und technischen Möglichkeiten dazu wären vorhanden!
– Wieso hechten wir oberflächlichen Dingen mehr nach, als uns der Auseinandersetzung mit den Tiefendimensionen des Lebens zu stellen?
– Warum handeln wir immer zuerst, ohne die Folgen und Konsequenzen zu bedenken?
– Wieso produzieren wir Dinge und verbrauchen sie, ohne uns um deren Wiederverwertung bzw. Entsorgung zu kümmern?
– Wieso produzieren wir Berge von Nahrungsmitteln und vernichten diese unverzehrt wieder, während weite Teile der Welt hungern und ganze Landstriche verwüstet werden, um diese ungenutzten Lebensmittel zu produzieren?
– Warum „verbrauchen“ wir Dinge überhaupt? Warum „gebrauchen“ wir sie nicht, um sie an die nächsten Generationen weitergeben zu können?
– Warum müssen Produktzyklen immer noch kürzer werden, anstatt eine lange Nutzungsdauer von Gegenständen anzustreben?
– Warum sind wir nicht in der Lage, Wissen von einem Bereich auf den anderen zu übertragen?
– Warum sind wir eher bereit eigenes und fremdes Handeln zu akzeptieren, das von zweifelhaften/irrigen Meinungen und unhinterfragten/negativen Emotionen geleitet wird, anstatt dagegen zu protestieren und „Nein“ zu sagen?
– Wieso können Menschen ohne jegliches Ethos über das Schicksal von Milliarden Menschen und unseres Planeten entscheiden?
Die Müllkrippe zeigt uns aber auch etwas anderes. Und das ist vielleicht sogar das Entscheidendste. In allem scheinbar unsäglichen Elend, in aller scheinbar unentwirrbaren Verstrickung und aller scheinbar hoffnungslosen Sinnlosigkeit, die wir uns selbst eingebrockt haben, gibt es immer noch die Möglichkeit umzukehren, sich neu zu besinnen, sich zu ändern. Weihnachten sollte nicht die Insolvenzerklärung der Menschheit sein, nicht die Müllkippe unserer verspielten Verantwortung, sondern die Einsicht, dass wir bei aller Unfähigkeit und Schuld immer wieder die Chance geschenkt bekommen, den bisherigen Weg zu verlassen, aus der bisherigen Geisterbahnfahrt auszusteigen und neue Wege zu betreten, das wieder gut zu machen, was wir bisher verabsäumt und ignoriert haben. Weihnachten schenkt uns die Vision auf ein neues, ein ehrlicheres und dadurch besseres Leben. Verschenken wir diese Chance nicht, indem wir in welchen Bereichen auch immer, auf welchen Ebenen auch immer, alles nur schönreden und dabei lediglich die alten, toten Gerippe ausgraben, um sie in neue Gewänder zu stecken, ihren Verwesungsgeruch mit Parfüm zu übertönen und mit der Narrenkappe auf dem Kopf zu rufen: „Der König ist tot. Lang lebe der König!“
Die Bibel spricht schon im Alten Testament ständig vom „Umkehren“ bzw. Umdenken (hebr. שוב schub; griech. μετάνοια metanoia). In der Regel ist es auf eine erneute Hinwendung zu Gott bezogen. Im Prinzip gilt das Thema Umkehr aber für alle Menschen, religiöse wie areligiöse. Denn was dahintersteckt ist die In-Frage-Stellung der bisherigen Art zu leben: Was treibt mich? Was sind meine Ziele? Was ist mir heilig? Wie gehe ich mit meinen Verantwortlichkeiten um? Welche Antworten gebe ich auf die Fragen, die mir das Leben, die mir meine Mitmenschen, die mir die ganze Schöpfung stellt? Was tue ich mit meinen Emotionen, Hoffnungen, Ängsten, Begabungen, Talenten, Schwächen und Fehlern? Wie ehrlich bin ich zu mir und zu anderen? Wovon lasse ich mich berühren? Auf welchem Weg bin ich unterwegs?
Solche Fragestellungen sind uns nicht nur aus dem Religionsunterricht oder aus Gottesdiensten und Predigten bekannt. Auch die Wirtschaft u.a. arbeiten mit solchen Fragen, die dort aber meist darauf abzielen etwas zu verändern, um es wirtschaftlicher, effizienter und erfolgreicher zu machen. Die Frage nach der Sinnhaftigkeit der Veränderungen wird dabei aber nicht gestellt. Es geht alleine um eine wirtschaftliche Steigerung. Die „Umkehr“ jedoch, von der die Bibel spricht, ist etwas ganz anderes.
Für Christen ist klar, dass wir diese Umkehr nicht alleine bewältigen können. Und wir müssen es auch gar nicht. Denn an Weihnachten wird Gott Mensch, um diesen Weg der Umkehr mit uns zusammen zu gehen. Er selbst nimmt uns bei der Hand. Er selbst kehrt die Müll-KIPPE unserer Welt in eine Müll-KRIPPE um. Hier nochmals ein Zitat von Jochen Klepper:
Die Nacht ist schon im Schwinden,
macht euch zum Stalle auf!
Ihr sollt das Heil dort finden,
das aller Zeiten Lauf
von Anfang an verkündet,
seit eure Schuld geschah.
Nun hat sich euch verbündet,
den Gott selbst ausersah!
Noch manche Nacht wird fallen
auf Menschenleid und -schuld.
Doch wandert nun mit allen
der Stern der Gotteshuld.
Beglänzt von seinem Lichte,
hält euch kein Dunkel mehr.
Von Gottes Angesichte
kam euch die Rettung her.
Ich wünsche Euch/Ihnen allen und auch mir selbst, denn ich nehme mich von dem bisher Gesagten nicht aus, dass wir uns die Zeit nehmen, die Weihnachtsbotschaft tiefer zu durchdenken, dass wir uns von ihr anrühren lassen und dass wir wirklich versuchen, das Ereignis der Heiligen Nacht in uns und durch unser Handeln Gestalt annehmen zu lassen, zum Heil der Welt und zu unserem eigenen Heil.
fr. Martin / Michael Anderl