Ein Leben der Loslösung

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Wenn wir von anderen Liebe erfahren, sie uns immer neu Anteilnahme, Zuneigung und Freundschaft schenken, verlangen wir unmerklich nach mehr. In unseren Beziehungen neigen wir insgeheim dazu, Besitz von jemanden oder von etwas zu ergreifen. Was wir einmal an Liebe erfahren haben, das soll wieder so sein. Was uns jemand einmal an Liebe geschenkt hat, das wünschen wir uns wieder. Und es soll es mehr werden. Wir neigen dazu, von anderen mehr zu wollen, als sie geben können oder möchten. Es fällt uns in der Liebe schwer, etwas oder jemanden nicht in Besitz zu nehmen. Wenn wir lieben, sehnen wir uns nach vollkommener Liebe, die aber – außer Gott – niemand zu geben vermag.

Diese mitunter harte Einsicht lehrt uns: Zur Kunst des Liebens gehört das Ja zur Freiheit des Nächsten. Wenn wir unseren Nächsten eigene Vorstellungen aufdrängen, wie sie zu sein haben, damit wir sie lieben können, stiften wir in unseren Beziehungen schmerzliche Enttäuschungen (“Ent-Täuschungen“), die zu einem menschlichen Bruch führen können. Wenn wir den Mut aufbringen, grundsätzlich und tagtäglich, einander Lebensräume nicht nur zuzugestehen, sondern Lebensräume füreinander zu öffnen, in denen wir uns gemeinsam bewegen und begegnen, kann eine achtsame Nähe wachsen. Eine achtsame Nähe ist empathisch und dankbar für das Geschenk des gegenwärtigen Augenblicks.

Zu einer achtsamen Nähe gehört die achtsame Distanz. Das mag zunächst widersprüchlich sein, weil wir Distanz mit Desinteresse und Gleichgültigkeit verbinden. Achtsame Distanz meint etwas anderes. Die christlichen Mystikerinnen und Mystiker vergangener Jahrhunderte sagten es immer wieder neu: Um einander lieben zu können, müssen wir uns voneinander lösen; um die Freude an den guten und schönen Dingen “verkosten“ zu können, müssen wir uns von ihnen lösen. Sich lösen zu können heißt: Ich ergreife nicht Besitz von jemanden oder von etwas, ich klammere mich nicht fest. Dahinter steht die Erfahrung: Das Leben in seiner Vielfalt, mit seinen Höhen und Tiefen, ist etwas, das wir empfangen, das uns (auf)gegeben ist und kein Besitz, an den wir uns klammern können.

Die Mystikerinnen und Mystiker hatten in ihren Glauben ein tiefes Empfinden dafür, was “gehören“ bedeutet. Durch die Taufe gehört ein Mensch zu Jesus Christus und ist in dessen Gemeinschaft mit Gott aufgenommen. Der Apostel Paulus schreibt über Christus: In ihm, durch ihn und auf ihn hin ist alles erschaffen (vgl. Kol 1,12-20). Das besagt: Mensch und Welt sind auf die Liebe und das Leben hin erschaffen (vgl. Joh 10,10; 14,6; 1 Joh 4,7-16). Die Liebe und das Leben sind die Letztberufung von Mensch und Welt. Eine Empfindsamkeit für diese universale Glaubenssicht stiftet auch in schweren Zeiten eine Hoffnung, die trägt (vgl. Röm 5,5) und zur verantwortungsbewussten Tat bewegt. Zugleich öffnet sie unseren Horizont noch für etwas anderes: Da die Liebe und das Leben die Letztberufung von Mensch und Welt sind, können wir dankbar sein. Und hierin entdecken wir, worin ein Leben der Loslösung besteht, genauer, was ein Leben liebender Loslösung bedeutet: Weil wir nicht in Besitz nehmen wollen, ist es ein Leben, in dem wir frei sind zu danken. In genau diesem Sinn sind wir die „Armen im Geiste“, die Jesus seligpreist, „denn ihnen gehört das Himmelreich“ (Mt 5,3).

Wie können wir zu einer solchen Empfindsamkeit gelangen?

Üben wir uns täglich in der Dankbarkeit, indem wir am Ende des Abends auf den Tag zurückschauen, ihn vor unseren Augen vorüberziehen lassen. Entdecken wir Momente, für die wir dankbar sind. Wir können, ja dürfen nicht für alles dankbar sein. Aber es gibt in jeder Lebenssituation etwas, für das wir dankbar sein können und mag es uns auch noch so gering erscheinen: ein freundliches Wort, ein heiteres Lächeln, ein aufbauendes Gespräch und eine helfende Hand, eine leuchtende Kerze beim Gebet, ein gutes Essen und ein Glas sauberes Wasser, die großen und kleinen Schönheiten der Natur. Haben wir keine Furcht, all das zu betrachten, was uns zu dem Ort unseres Lebens führte, an dem wir hier und heute sind, weil – das ist die universale Perspektive – alles auf Christus hin erschaffen ist, der die Liebe und das Leben ist.

 

Gregor Schwabegger OCist