Der Theologe Richard von St. Viktor (um 1110-1173) bringt es in seiner Betrachtung über das Geheimnis des einen und dreifaltigen Gottes auf den Punkt: Da Gott die sich selbst gebende Liebe (caritas) ist (vgl. 1 Joh 4,16), besteht zwischen den beiden Personen, dem Vater und dem Sohn, ein ewiger Liebesstrom. Dieses ewige Zugewandtsein, dieser ewige Strom und Austausch der sich selbst gebenden Liebe bleibt nicht in sich selbst, sondern teilt sich mit, gießt sich gleichsam aus im Heiligen Geist. Die Liebe des einen und dreifaltigen Gottes ist teilhabend und durch Taufe und Firmung sind wir in diesen Strom hineingenommen.
Der Apostel Paulus schreibt in seinem Brief an die Gemeinde in Rom: „Denn wir wissen, dass die gesamte Schöpfung bis zum heutigen Tag seufzt und in Geburtswehen liegt. Aber nicht nur das, sondern auch wir, obwohl wir als Erstlingsgabe den Geist haben, auch wir seufzen in unserem Herzen und warten darauf, dass wir mit der Erlösung unseres Leibes als Söhne offenbar werden.“ (Röm 8,22f.)
Der Geist Gottes entreißt uns nicht Enttäuschungen und Wüstenzeiten, Beschwernissen und Konflikten. Aber ist nach den Zeugnissen des Neuen Testaments in uns, unter uns und bei uns: als Beistand und echter Trost, als Weisheit, Einsicht und Rat, als Erkenntnis und Stärke, als Frömmigkeit und Gottesfurcht. Es kommt darauf an, diesen Gottesgeist hörenden Herzens wahrzunehmen. Dies wird mehr und tiefer geschehen, je tiefer wir uns vom Evangelium verwandeln lassen – je ernsthafter wir in die Lebensschule Jesu gehen und täglich neu lernen, das zu leben, was wir vom Evangelium verstanden haben. Das setzt tägliches Gebet und tägliche Schriftlesung, Reflexion und die Teilnahme an den Gottesdiensten zu den Sonn- und Feiertagen voraus, insofern sie unseren inneren Menschen auf dem Pilgerweg des Lebens nähren.
Die Erzählung des Pfingstereignisses in der Apostelgeschichte (vgl. Apg 2) bezeugt die verwandelnde Kraft des Gottesgeistes und verheißt uns Hoffnung: Menschen, die in die Lebensschule Jesu gehen, wachsen über sich hinaus, wachsen zu einer neuen Gemeinschaft zusammen und schwingen sich zu einer gemeinsamen Vision empor – die Mahlgemeinschaft aller Völker, das Werden von Gerechtigkeit, das Umschmieden der Schwerter zu Pflugscharen, das Wachsen eines versöhnten und fürsorgenden Miteinanders unter dem Himmel Gottes. Diese Vision hat die ersten Christinnen und Christen bewegt. Sie war ihnen nicht angeboren, sondern wollte erlernt und gelebt werden. Sie gaben ihr Lebenszeugnis, ihre Erfahrungen und Hoffnung an die nächste Generation weiter: Eine Hoffnung, die weitaus mehr ist als die Gesamtheit ihres Wirkens, ihrer Taten und Leistungen – jene Hoffnung, dass Gott durch seinen Geist immer wieder neu die Möglichkeiten schenkt, die große Vision ein Stück weit Lebenswirklichkeit werden zu lassen.
Fragen wir uns kritisch: Haben wir noch solche gemeinsamen und gemeinsam geteilten Visionen – in der Kirche, in unseren Gemeinden und Gemeinschaften, in unserem Land, in Europa und weit darüber hinaus? Oder erschöpft sich das Interesse in den eigenen vier Wänden? Geht es ausschließlich nur mehr um die Sicherung des status quo? Dreht sich alles um den Erhalt des Besitzstandes nach dem Motto „Es bleibt alles so wie es ist“? Wenn sich aber alles ängstlich darum dreht, Besitzstand und status quo zu erhalten, dann gibt es im Grunde nichts mehr zu hoffen und man wird taub für das Wirken des Gottesgeistes. Die einstige Mahnung des Apostels Paulus gilt auch uns heute: „Löscht den Geist nicht aus! Verachtet prophetisches Reden nicht! Prüft alles und behaltet das Gute! Meidet das Böse in jeder Gestalt!“ (1 Thess 5,19-22)
P. Gregor Schwabegger OCist