Es gibt heute viele Aussagen, die verwirren: z.B. „niemand hat die Wahrheit, wir sind alle auf der Suche nach der Wahrheit“. Damit wird generell jede Aussage in ihrer Gültigkeit in Frage gestellt. Eine Aussage muss aber in sich Gültigkeit haben, das heißt Wahrheit beanspruchen, sonst hat sie keinen Sinn. Wenn jemand „über die Ohren“ verliebt ist, wird wohl niemand sagen: Er darf nicht behaupten, dass seine Verliebtheit Wahrheit beansprucht. Die Verliebtheit trifft hier nur für ihn zu und nicht für alle Menschen, aber für ihn ist das Realität und beansprucht als solche Wahrheit. Wenn Menschen sagen: wir haben die Wahrheit in Jesus Christus gefunden (vgl. Joh 6,68f. u. Joh 14,6), dann haben auch nur sie und nicht die ganze Welt diese Wahrheit gefunden. Eine Erkenntnis kann man nicht weiter geben wie einen Gegenstand. Sie muss angeeignet werden. In diesem Sinn ermahnt uns Goethe: „Was du ererbt von deinen Vätern hast, erwirb es, um es zu besitzen.“ Unsere Gesellschaft hat das Christentum gleichsam geerbt durch die Glaubensweitergabe unserer Eltern. Haben wir es uns auch angeeignet? Selbst wenn wir Jesus Christus als unseren Gott erkannt und den Glauben angeeignet haben, können wir Gott nicht besitzen. Wir können mit Petrus sinngemäß nur sagen: Wir haben die Wahrheit gefunden. Aber weil wir die Wahrheit nicht wie einen Gegenstand besitzen können, müssen wir immer wieder bestrebt sein, die Wahrheit neu zu finden. Selbst Petrus, der in Jesus die Wahrheit erkannte, hat ihn später verleugnet. Wenn Christus sagt: Ich bin der Weg und die Wahrheit … , dann heißt hier die Frage: WER ist die Wahrheit, und nicht: WAS ist die Wahrheit. So kann die Gültigkeit der Aussage nur in einer heilen Beziehung zu ihm liegen und zu dem, den er als Weg vertritt. Eine solche Wahrheit kann nicht verordnet oder willkürlich gesetzt aber auch nicht abgesprochen werden.
Hannes Binder, Priester der Diözese Innsbruck