Die Zeit ist erfüllt, das Reich Gottes ist nahe.
Kehrt um, und glaubt an das Evangelium! (Mk 1,15)
Mit dem Aschermittwoch beginnt die vierzigtägige Vorbereitungszeit auf das Osterfest: die Fastenzeit oder österliche Bußzeit. Sie ist seit dem 4. Jahrhundert bezeugt. Den biblischen Hintergrund für die Zahl 40 liefern all jene Texte, in denen dem Zeitraum von 40 Tagen oder 40 Jahren eine besondere Bedeutung zukommt: Die Sintflut dauert 40 Tage und Nächte (vgl. Gen 7,4ff), Mose hält sich 40 Tage lang auf dem Sinai auf (vgl. Ex 24,18; 34,28) und der Prophet Elija wandert 40 Tage zum Gottesberg Horeb (vgl. 1 Kön 19,8). Das Volk Israel ist 40 Jahre durch die Wüste unterwegs, ehe es ans Ziel gelangt (vgl. Jos 5,6). Die Stadt Ninive sollte in 40 Tagen untergehen (vgl. Jona 3,4). Und Jesus hält sich 40 Tage und Nächte in der Wüste auf (vgl. Mk 1,13; Mt 4,2; Lk 4,1f), bevor er sein öffentliches Wirken mit dem Ruf beginnt: „Die Zeit ist erfüllt, das Reich Gottes ist nahe. Kehrt um, und glaubt an das Evangelium!“ Die Zahl 40 symbolisiert Zeiten der Selbstbesinnung und Klärung, der Prüfung, Buße und Neuorientierung, der Vorbereitung und des Übergangs. In der österlichen Bußzeit geht es also um eines: Umkehr, metánoia. Wer um-kehrt, der denkt um und richtet seinen Sinn neu aus.
Wenn wir mit jemandem, der uns sehr nahe steht, über unsere Schattenseiten sprechen, über jenen berühmten inneren Schweinehund, der immer wieder kehrt, über ungute Verhaltensmuster, in die wir immer wieder zurückfallen, dann mag der Satz sehr karg klingen: „Wenn du dein Denken und Verhalten nicht richtig findest, dann ändere sie!“ Das ist direkt und nüchtern. So nüchtern, dass wir zunächst sprachlos sind. Wir hätten vielleicht eine Tröstung erwartet oder zumindest eine Beruhigung, eine Relativierung unserer Probleme oder deren Rationalisierung. Bin ich überrascht, wenn jemand direkt an meine Verantwortung gegenüber dem eigenen Leben appelliert? Ja, es ist eine nüchterne Wahrheit: Jeder ist für sein eigenes Denken und Verhalten, ist für sein eigenes Leben verantwortlich. Kein Freund und keine Freundin, nicht Ehemann und Ehefrau, kein Therapeut und Seelsorger kann einem das abnehmen. Niemand, nicht einmal Gott.
Die Evangelien erzählen, dass Jesus niemanden gegen dessen Willen heilt. Und er zwingt niemanden zur Um-kehr. „Willst du gesund werden?“ (Joh 5,6) fragt er den Bettlägerigen am Teich Betesda. Dieser spricht ein verborgenes „Ja“. Er verweist auf seine trostlose Situation und auf seine Sehnsucht nach Heilung, die bisher keine Erfüllung fand: „Herr, ich habe keinen Menschen, der mich, sobald das Wasser aufwallt, in den Teich trägt. Während ich mich hinschleppe, steigt schon ein anderer vor mir hinein.“ Da ist niemand, der ihn zum Wasser trägt, von dem sich viele Heilung versprechen. Er bleibt unter den Vielen auf sich allein gestellt. Da sagt ihm Jesus geradeheraus: „Steh auf, nimm deine Bahre und geh!“ Der Mann steht auf und ist geheilt. Aufstehen, Gehen und Geheiltwerden – das alles ereignet sich in der Geschichte gleichzeitig. “Es“ geht, dass der Bettlägerige selbst aufsteht und geht und seine Barre in die Hand nimmt, die ihm achtunddreißig Jahre lang fesselnde Lagerstätte wie auch Last war. Jesus trug ihn nicht zum Teich. Er verlangte ihm auch nicht das Unmögliche ab, sondern das ihm hier und jetzt Mögliche. Im Moment des Aufstehens, des Sich-Aufrichtens und Gehens erlebt der, welcher so lange die Welt von unten her wahrnahm, dass “es“ geht.
Wer im Sinne des Evangeliums umkehrt, wendet sich von dem ab, was Leben beeinträchtigt, fesselt oder zerstört. Er kehrt um zum Leben (vgl. Ez 18,32; Apg 11,18) und zu dem, was Leben fördert und zum Wachsen bringt. Was will Gott in den alttestamentlichen Erzählungen mit der Umkehr erreichen? Genau dies: Heilung, Leben in Fülle, Gemeinschaft mit ihm und untereinander (vgl. Dtn 30,2f; Ez 18,30f).
Jesus stellt eine Zumutung an die, welche seine Botschaft leben wollen. Es ist nicht die Forderung des Unmöglichen, sondern die Zumutung der menschenmöglichen Umkehr: Jene Veränderung, die im eigenen Leben hinabgräbt zum Punkt der unaufgebbaren Selbstverantwortung und noch tiefer hinab zum bisher Ungeahnten, das Jesus „Königreich der Himmel“ nennt – es ist Leben in Fülle (vgl. Joh 10,10).
„Kehrt um, und glaubt an das Evangelium!“ So lautet die Zumutung Jesu in einem einzigen Ruf. Zuerst umkehren, dann erst glauben. Er mutet uns das zu als etwas, das uns möglich ist, das aber jeder von uns alleine tun muss, um erleben zu können, was dann in unserem Leben an Wandlung geschieht.
P. Gregor Schwabegger OCist