Gedanken zu Passion und Ostern
Das Kreuz. Es ist zuallererst ein Hinrichtungsinstrument, eines, das zu den grausamsten der Menschheitsgeschichte gehörte. Körperliche Bloßstellung und menschliche Entwürdigung, qualvolles Sterben bis zu mehreren Tagen. Das Kreuz symbolisiert den Sadismus, zu dem Menschen bis heute fähig sind. Das Kreuz: Es steht für alles Leid, das wir einander zufügen. Einmal wissend, was wir da einander antun. Einmal verdrängend, was wir da tun, wenn wir den Verzweiflungsschrei des Nächsten überhören und wegschauen – überfordert und sprachlos, mitunter auch gleichgültig. Empathie tut weh und die Gleichgültigkeit soll vor dieser Empfindung schützen. Dann auch die Haltung: Es ist eben so, da kann man nichts machen. Jesus bittet am Kreuz Gott allen zu vergeben, die ihm Leid zufügen: „Vater, vergib ihnen; denn sie wissen nicht, was sie tun“ (Lk 23,34). Wem gilt seine Bitte? Seinem Freund Judas, der ihn verriet. Seinen Freunden, die davongelaufen sind und ihn im Stich lassen. Petrus, der ihn verleugnete. Dem Hohen Rat, den Hohepriestern und religiösen Autoritäten, die ihn zeit seines öffentlichen Wirkens mit Argwohn und Hass gegenübertraten und schließlich seine Verurteilung betrieben. Pilatus, der, getrieben von der Angst vor Machtverlust und von der Angst vor seinem Kaiser in Rom, wider bessere Einsicht Jesus der Hinrichtung am Kreuz ausliefert. Den Folterknechten und Soldaten, die ihn verspotten, schlagen und quälen – sie sind die untersten Glieder eines Räderwerks, das keinen Widerspruch duldet und kein Mitgefühl kennt; die Geschlagenen und Gedemütigten werden zu Schlägern und Demütigern. Die Bitte Jesu um Vergebung gilt allen, für die sein Prozess und seine Hinrichtung ein Schauspiel ist: den Schreiern, den Schaulustigen, den Stumpfsinnigen, den Sadisten. Schließlich allen, die das Unrecht sahen, sich dennoch abwandten und schwiegen. Allen, die nichts taten als sie hätten aufstehen und handeln müssen.
Für sie alle betet Jesus. Wenn keine Schuld vorgelegen hätte, wäre seine Fürbitte sinnlos gewesen. Verrat und Verleugnung, lebensauslöschende Ungerechtigkeit, grenzenlose Entwürdigung und furchtbare Qualen können seine Liebe nicht auslöschen. Was er verkündigt hat, das lebt er bis zum letzten Atemzug. Wo nur mehr Hass, Gewalt und Tod sind, da liebt Jesus unüberwindlich weiter. Trotz aller Entwürdigung bleibt er königlich und unantastbar in seiner Würde: „Du sagst es, ich bin ein König. Ich bin dazu geboren und dazu in die Welt gekommen, dass ich für die Wahrheit Zeugnis ablege. Jeder, der aus der Wahrheit ist, hört auf meine Stimme“ (Joh 18,37). Das ist Jesu Zeugnis: Es gibt eine Liebe, die den Tod für alle Zeit überdauert. So wandelt sich auf Golgota das Kreuz als Zeichen menschlicher Abgründigkeit zum Zeichen einer Liebe, die sich hingibt. Es wird zum Zeichen der Liebe, welche die Erlösung des Menschen bis in dessen tiefste Abgründigkeit sucht. Es wird zum Zeichen einer Liebe, die bis zum letzten Atemzug lebt und, so die Botschaft von Ostern, durch die Finsternis des Todes hindurchgeht: „Friede sei mit euch!“ (Joh 20,19).
Die tiefere Bedeutung des Kreuzes ist also eine zweifache. Erstens die Abkehr von Gleichgültigkeit und fehlendem Mitgefühl, das Angehen gegen Ungerechtigkeit, Entwürdigung und Leid, wo immer es uns gelingen kann, unsere Welt so zu gestalten, dass sie eine Welt wird, wo Mitgefühl, Gerechtigkeit und die Würde alles Lebendigen geachtet und gelebt werden. Zweitens ist das Kreuz das Zeichen einer Liebe, die bis zum letzten Atemzug reicht und den Tod für alle Zeit überdauert. Es ist das Zeichen der Liebe Gottes, die allem und allen gilt. Wir alle sind mit unserem Leben darin eingefasst und eingefasst mit dem, was zu unserem Leben gehört, mag es hell oder dunkel sein. In diesem doppelten Zeichen des Todes und der Liebe geschieht Erlösung.
Wir werden uns ehrlich eingestehen müssen: Wenn wir sterben, werden wir den Sinn unseres Lebens nicht erfüllt haben. Was wir getan und gesammelt haben, sättigte uns nicht. Was wir erstrebt haben, erreichten wir nicht. Was wir erhofft haben, trat nicht ein. Und wo wir Wahrheit gesucht haben, verdunkelten wir ihre Klarheit. Und wo wir lieben wollten, blieben wir weit zurück. Wir könnten den Karfreitag und Karsamstag nicht ertragen, müssten ihnen ausweichen, sie übergehen, wie so vieles, das wir nicht an uns heranlassen, wenn dann nicht der Ostermorgen folgte: Es gibt eine Liebe trotz Hass und Gewalt, jene Liebe die den Tod überdauert, es gibt das Leben aus dem Tod und nach dem Tod – Liebe und Leben aus Gott. Das Zeichen des Kreuzes möge uns in diesen Wochen helfen zu glauben, dass Jesus, der sein Leben für die Abgründigkeit und Verlassenheit aller Menschen dahingab, unser aller Leben zu seinem eigentlichen Ziel führen will: zum ewigen Leben mit Gott.
P. Gregor Schwabegger OCist